Die junge Pastorin

Schon nach dem ersten Semester Geografie wusste Jasmin Graumann, dass dies nichts für sie war. Sie wechselte ins Fach Theologie und spürte, dass sie ihre Bestimmung gefunden hatte. Und nun wurde die Neunundzwanzigjährige mit den strahlenden blauen Augen und den dunkelblonden, meist zu einem Pferdeschwanz gebundenen mittellangen Haaren als Pastorin zur Anstellung mit einem Gottesdienst in der Johanneskirche in ihrer neuen Gemeinde aufgenommen.

Nachdem sie ihr Vikariat in einer benachbarten Kirchengemeinde absolviert hat, übernahm sie also nun hier in dieser norddeutschen Kleinstadt ihre erste Pastorenstelle. Sie war froh, dass es hier war, denn von diesem kleinen Städtchen aus konnte ihr Mann Robert seine Arbeit in der benachbarten Großstadt gut erreichen.

Vor zwei Wochen waren sie in das Pastorat neben der Kirche eingezogen. Nach einer Woche hielt sie bereits ihren ersten Gottesdienst. In ihrer Predigt gelang es ihr, beinahe die ganze Gemeinde zum Schmunzeln zu bringen, indem sie versuchte, sich in ihre Zuhörer zu versetzen. “Was werden Sie wohl von mir denken? Ganz hübsch sieht sie aus die neue Pastorin, und eigentlich ganz nett.”

Die Kirche war gut gefüllt. Kantor Habermann gestaltete den Gottesdienst musikalisch.

Nach dem Gottesdienst fühlte Jasmin sich bestätigt. Die Predigt war ihr gut gelungen, die Gemeindemitglieder freundlich gestimmt. Bis auf den etwa vierzigjährigen Fremden in der dritten Reihe, der sie während des Gottesdienstes ununterbrochen angeschaut hatte ohne eine Miene zu verziehen. Er war ganz in schwarz gekleidet und trug einen langen Ledermantel. Sein Gesicht war markant. Buschige, fast zusammengewachsene Augenbrauen, die mächtige Hakennase, schmale Lippen und ein Unterlippenbärtchen. Irgendwie war er ihr unheimlich.

Am nächsten Morgen verabschiedete sie Robert mit einem Küsschen auf die Wange, bevor er sich in das Familienauto setzte und zur Arbeit fuhr. Er arbeitete als Buchhalter in einer großen Im- und Exportfirma in der nächstgelegenen Großstadt.

Jasmin war jetzt alleine im Pastorat.

Nach kurzer Zeit klingelte es an der Haustür.

Die junge Pastorin öffnete und erschrak, machte unwillkürlich einen Schritt zurück und hätte fast ihre Fassung verloren. Vor ihr stand der unheimliche Fremde aus dem Gottesdienst. Diesmal jedoch grinste er breit und beinahe unverschämt.