Der Zettelkasten

Der Zettelkasten

Eine erotische Familienchronik

Chapter 1 by Reyhani Reyhani

KRIEGSVERLUST war in roter Tinte quer über die Seite im Findbuch des Schlossarchivs geschrieben. Theresa fuhr zurück, als ob nicht nur der Aktenbestand aus der Regierungszeit der Reichsgräfin Marianne von einer alliierten Brandbombe ausgelöscht, sondern auch sie selbst von der Detonation erfasst worden wäre. Roch es verbrannt? Reflexartig fasste sie sich in ihr Haar, aber natürlich war das nur Einbildung. Sicher war, dass ihre Doktorarbeit nach diesem Volltreffer augenblicklich ins Trudeln geraten war. Ein Schwindelgefühl erfasste sie. Wie sollte sie die offenen Fragen der Forschung bezüglich der Herrschaftspraktiken weiblicher Regentinnen im Spätabsolutismus am Beispiel von blablabla – sie konnte ihr eigenes Thema schon selbst nicht mehr hören –, wie sollte sie all das ohne die Verwaltungsakten der Grafschaft beantworten? Sie sackte langsam nach vorne bis ihre Stirn mit einem dumpfen Geräusch auf das dicke Findbuch aufschlug.

"Alles in Ordnung?", weckte sie eine besorgte Stimme aus ihrer Schockstarre, ohne dass sie hätte sagen können, wie lange sie schon so auf dem Tisch gelegen hatte. Es kostete sie unglaubliche Mühe, ihren Kopf zu drehen. Die Bibliothekarin, die sie heute morgen so nett eingewiesen und ihr die verschiedenen Kataloge der Bibliothek und des Archivs erklärt hatte, lächelte sie an. Theresas "Ja klar, alles in Ordnung" war wohl nicht besonders überzeugend, denn hinter ihrer dicken Hornbrille zog die ältere Dame skeptisch ihre Augen zusammen und guckte noch ein bisschen mitleidiger.

Theresa setzten sich auf. Bei soviel Anteilnahme wollte sie wenigstens eine kurze Erklärung abgeben, obwohl ihr im Moment wirklich nicht der Sinn nach einer Unterhaltung stand. Sie deutete auf das Findbuch und erläuterte welche verheerenden Auswirkungen der Eintrag auf ihre Arbeit hatte. Dabei war sie doch grade erst angekommen und hatte geplant, mindestens zwei Wochen mit den Akten zu arbeiten. Bei dem Gedanken, dass sie jetzt wieder unverrichteter Dinge abreisen müsste, wurde ihr immer elender zumute. Etwas in ihrer Brust zog sich zusammen.

Die Bibliothekarin schien Theresas aufsteigende Verzweiflung zu spüren. Sie drückte aufmunternd das Schulterpolster des Blazers, den Theresa für den ersten Tag in der Bibliothek ausgesucht hatte, um ihre Jeans aufzuwerten. Dann sprach sie zögerlich: "Das ist ja schrecklich, mein Liebes. Es stimmt, der Bestand ist verschollen, wahrscheinlich zerstört, während die Bibliothek im Krieg ausgelagert war. So haben wir einige unserer wertvollsten Bücher verloren ... Aber es gibt vielleicht eine Möglichkeit, vielleicht können Sie ja im Zettelkasten etwas zu Ihrem Thema finden."

Theresa sah die Bibliothekarin leicht verwirrt an, denn sie hatte nicht ganz verstanden, was ihr da vorgeschlagen wurde. Die ältere Frau seufzte, verschränkte ihre Arme vor der ausladenden Brust und verzog ihren rot geschminkten Mund: "Das heißt, wenn wir die Erlaubnis bekommen. Direktor Humann ist manchmal sehr kompliziert und tut so, als ob die Bestände ihm gehören. In Wirklichkeit ist er ja auch nur ein Angestellter der Gräfin. Aber wir werden ihn schon rumkriegen. Kommen Sie, ich wollte dem Direktor eh eine Bestellung vorbeibringen. Er hat sein Büro in einem anderen Teil des Schlosses."

Immer noch verunsichert aber mit neuer Hoffnung folgte Theresa der Bibliothekarin zu ihrem Arbeitsplatz in den hinteren Teil des kleinen Lesesaals. Als sie heute Morgen hier zum ersten Mal eingetreten war, hatte sie sich gefreut, die nächsten zwei, drei Wochen an einem so schönen Ort verbringen zu dürfen. Die Originaleinrichtung aus dem achtzehnten Jahrhundert, als das Schloss erweitert worden war, war komplett erhalten. In der Mitte des Saales waren einige Lesepulte aus dunklem Holz angeordnet; an den Wände zwischen den hohen Fenstern standen Bücherregale für die Enzyklopädien und Referenzwerke; von der reich mit Stuck verzierten, barocken Decke schaute ein apollinisches Pinup umgeben von den Insignien der Künste und Wissenschaften auf die Leser herab. Hallo, Kollegin.

Die Bibliothekarin nahm einen Stapel Bücher – vor allem kleine in Leder gebundene Quartbände – von ihrem massiven Schreibtisch und trat dann vor die Wand, wo sie sich an der Holzvertäfelung zu schaffen machte. Ein leises Klicken war zu hören und ein großes Paneel sprang leicht nach vorne.

"Das ist eine Abkürzung", sagte sie lächelnd und Theresa war, als zwinkerte sie ihr zu. Dann zog sie leicht den Kopf ein, damit sie mit ihrer Bienenkorbfrisur durch den schmalen, niedrigen Durchlass passte, der sich aufgetan hatte. Nachdem sie sich von ihrer Überraschung erholt hatte, folge Theresa der Bibliothekarin durch die Geheimtür.

Auf der anderen Seite fanden sie sich in einem langen, schmalen Gang wieder. Im Gegensatz zum prunkvollen Lesesaal waren seine kahlen Wände weiß gekalkt und er wurde nur von kleinen Fensterschlitzen hoch oben an der Wand beleuchtete. Es roch ein bisschen muffig und überall stand Gerümpel herum. Theresa staunte über ihren unvermittelten Zugang hinter die Kulissen. Dann wurde die verstaubte Atmosphäre von den lauten Schritten der Bibliothekarin gestört: Die breiten Absätze ihrer schwarzen Schnürstiefel knallten auf dem einfachen Steinfußboden. Theresa schreckte auf und beeilte sich, die Tür am Ende des Ganges zu erreichen, die ihr die Bibliothekarin aufhielt.

Sie betraten einen Raum, in dessen Mitte ein riesiger Holztisch stand. Die vier Männer in grünen Overalls, die am Tisch saßen, vor sich Kaffeebecher und Butterbrotdosen aufgestellt, sahen nur kurz auf. Dabei nickten sie der Bibliothekarin freundlich zu und musterten Theresa neugierig. Die Bibliothekarin erwiderte den Gruß mit einem Lächeln und strebte dann weiter zur Tür am gegenüberliegenden Seite des Raumes. Auch Theresa grinste den Männern unsicher zu, bevor sie ihrer Führerin hinterher eilte.

Sie fanden sich in einem identischen Gang wieder, der allerdings ein bisschen sauberer und aufgeräumter wirkte. Wie zuvor folgte Theresa der Bibliothekarin den langen Gang hinunter gleichsam hypnotisiert vom Klacken ihrer Stiefel. "Wie grade sie sich hält und was für eine schlanke Taille sie in dem langweiligen, grauen Kostüm hat", dachte Theresa, da öffnete sich mit einem mal rechts eine Tür, aus der eine Gestalt in den Flur trat. Es war eine junge Frau in einem langen, himmelblauen Kleid, die sich beeilte, in einen tiefen Knicks zu gehen, als sich Bibliothekarin näherte. Im Vorübergehen sah Theresa, dass sie eine Art Mieder trug, das einen tiefen Einblick in das Dekolleté der sich Verbeugenden zuließ. Ihre Verkleidung wurde durch ein weißes Häubchen auf dem Kopf abgerundet. Die Bibliothekarin kommentierte die Szene mit keinem Wort, aber Theresa war sofort klar, dass es sich um die Schlossführung handeln musste. Die wurde wohl auch in pseudo-historischen Kostümen angeboten. Ein bisschen albern für ihren Geschmack.

Am Ende des Ganges erreichten sie eine schmale Wendeltreppe, über die sie in den ersten Stock stiegen. Nach einer weiteren Tür waren sie wieder im repräsentativen Teil des Schlosses, wo sie über einen breiten Korridor durch eine Flügeltür in ein helles Vorzimmer eintraten. Links war eine weitere Flügeltür neben der ein Rokkoko Canapé mit einem glänzenden, roten Seidenbezug sowie ein passendes Beistelltischchen stand. Darüber hing das Gemälde einer streng dreinblickenden Aristokratin mit einer gepuderten Turmfrisur in einem ausladenden Robe in Rot und Schwarz.

Die rechte Seite des Vorzimmers hingegen strahlte kreatives Chaos aus. An der Wand stand zwei vor Papieren und Bücherstapeln überquellende Tische. Die Bibliothekarin deutete auf die auf den Tischen hinten an die Wand geschoben hölzernen Schubkästen:

"Da ist der Zettelkasten. Der Direktor arbeitet ständig damit. Ich hoffe, er lässt Sie zwischendurch auch mal ran."

Theresa machte einen Schritt in Richtung des Tisches, fuhr aber sofort erschrocken zurück, als ein bedrohliches Knurren ertönte. Erst jetzt nahm sie den riesigen Hund wahr, vielleicht ein Rottweiler, so genau kannte sie sich da nicht aus, der unter dem Tisch lag und drohend zu ihr hochblickte. Völlig unbefangen ging die Bibliothekarin auf ihn zu, beugte sich zu ihm herab, tätschelte seinen massiven Kopf und sprach ein paar aufmunternde Worte. Sofort beruhige sich das Tier und schloss die Augen.

"Keine Angst, das ist nur Rex, ein ganz Lieber, der tut keinem was. Die Gräfin lässt ihn manchmal hier, wenn sie in der Stadt zu tun hat. Der Direktor muss dann mit Rex Gassi gehen", gluckste die Bibliothekarin.

"Ach so ...", erwiderte Theresa, aber es hörte sich eher nach einer Frage an. "Und was hat es jetzt mit diesem Zettelkasten auf sich", deutete sie nach links. Es kam ungeduldiger heraus, als sie es beabsichtigt hatte, denn schließlich wollte die gute Frau ihr doch nur helfen.

"Das soll Direktor Humann Ihnen am besten mal selbst erklären", antwortete die Bibliothekarin, strich sich ihr dunkelgraues Kostüm über der Hüfte glatt und sie traten an die Flügeltür zum Direktionszimmer.

"Ah, ahhh, jahhhhh ... mmmm ja ... ahhhhh ..."

Theresa konnte die eindeutigen Geräusche von jenseits der Tür deutlich hören. Selbst die Bibliothekarin, die eben noch schwungvoll eintreten wollte, war verunsichert und blickte Theresa fragend an.

"Er hat doch gar keine Sekretärin mehr", flüsterte sie ihr zu und klopfte dann verhalten.

Was geht bei Direktor Humann vor?

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