More fun
Want to support CHYOA?
Disable your Ad Blocker! Thanks :)

Chapter 2 by Reyhani Reyhani

Was geht bei Direktor Humann vor?

Orgasmusforschung

Dieses Mal war deutlich ein Herein zu vernehmen, ohne dass die Geräusche verstummten. Die Bibliothekarin zuckte mit den Schultern und öffnete vorsichtig die Tür.

"... ah, ah, ah, ahhhhhhhhhhh ...", wurde das Stöhnen noch lauter, als sie eintraten.

"Einen Moment noch, Melinda, ich mache mir noch ein paar Notizen zu der Aufnahme. Bin gleich für Sie da", sprach der Direktor, während er gleichzeitig auf einem Kassettenrecorder auf seinem Schreibtisch herumdrückte. Dann beugte er sich zum Schreiben vornüber, so dass seine Halbglatze aufblitzte.

"Sagen Sie mal, Melinda, erinnern Sie sich an ihren letzten Orgasmus?", richtete er sich immer noch schreibend an die Bibliothekarin.

"Ich bitte Sie, Herr Direktor", erwiderte diese entrüstet, "so ein schlechtes Gedächtnis habe ich trotz meines Alters nicht, dass ich mich nicht an heute morgen erinnern würde. In der Bibliothek sind wir sehr gewissenhaft mit dem Dienstplan."

Jetzt sah der Direktor auf und legte den Stift beiseite: "So, der Orgasmus war dienstlich? Dann spricht wohl nichts dagegen, wenn Sie mir bei Gelegenheit eine Aufnahme machen. Zu rein wissenschaftlichen Zwecken versteht sich. Ich versuche herauszufinden, ob sich nach der allgemeinen Etablierung des Orgasmusparadigmas und der einhergehenden Semantik auch eine standardisierte lautliche Ausdrucksform durchsetzen konnte oder ob dieser Bereich im Vorgesellschaftlichen verbleibt, also ausgeschlossen von jedweden Normierungstendenzen."

"Und wie sieht es bei Ihnen aus?", richtete er sich jetzt an Theresa. "Ich brauche soviel Material wie ich kriegen kann, Fräulein ... äh, helfen Sie mir, wie war doch gleich Ihr Name?"

Theresa, die den Austausch schon vorher staunend verfolgt hatte, war jetzt vollkommen überrumpelt. Sie starrte den freundlich lächelnden Direktor mit der randlosen Brille ungläubig an, öffnete den Mund, aber bekam keinen Ton heraus.

"Entschuldigen Sie, Herr Direktor, sie ist keine Mitarbeiterin, sondern eine Nutzerin, die Zugriff auf den Zettelkasten benötigt. Deshalb habe ich sie mitgebracht", sprang die Bibliothekarin Theresa bei.

"Dann ist das ja doch ihr Thema!", erwiderte der Direktor triumphierend. "Der Zettelkasten enthält sämtliche Notizen und Exzerpte zu meiner geplanten Abhandlung 'Der Orgasmus der Gesellschaft', in der ich den Wandel der Codierung von Sexualität in der Moderne skizziere. Der Zettelkasten ist quasi mein ausgelagertes Gedächtnis, zugegeben viel besser kategorisiert und verschlagwortet als mein eigener Kopf. Ich versuche nachzuvollziehen, wie der Orgasmus zur Leitdifferenz in der modernen Sexualität wird. Dazu musste er erst einmal erfunden werden und von vielen andern Arten von Höhepunkten, Verzückungen oder Delirien wie z.B. im Rahmen der Religion abgegrenzt werden. Dann konnte er vermessen und beschrieben werden und gehört heute zum non plus ultra der Sexualität. Jeder weiß doch heute, was ein Orgasmus ist, Sie sicher auch Fräulein ... wie hießen Sie noch gleich?"

"Mein Name ist Theresa und natürlich weiß ich, was ein Orgasmus ist", fand Theresa jetzt ihre Sprache wieder. Der Redeschwall hatte ihr Zeit gegeben sich zu sammeln. Jetzt konnte sie die infame Unterstellung des Direktors knapp zurückweisen. Als junge Frau im akademischen Betrieb war es das Wichtigste, nicht naiv zu erscheinen.

"Aber ich bin nicht interessiert daran, jedenfalls nicht in wissenschaftlicher Hinsicht. Für meine Dissertation wollte ich die Verwaltungsakten der Grafschaft aus dem späten achtzehnten Jahrhundert einsehen, nur um festzustellen, dass sie vermutlich im Krieg verbrannt sind. Es geht um weibliche Herrscherinnen wie z.B. die Gräfin Marianne. Wegen ihr bin ich hier", ... und nicht, um mir die wirren Theorien eines alten Knackers im Cordsakko anzuhören, dachte Theresa bei sich, während der Direktor sie verständnislos anblickte.

Wieder war es die Bibliothekarin, die sich erklärend einmischte. Sie habe sich an die Arbeit des Vorgängers von Direktor Humann erinnert, der Zeit seines Lebens an der Familienchronik gearbeitet habe, bis er unerwartet gestorben sei. Sein gesamtes Lebenswerk stecke in den untersten Schubfächern des Zettelkastens, den der Direktor dann so fleißig ausgebaut habe. Sie habe aus diesem Bestand früher einmal Informationen für die Gräfin herausgesucht und wenn sie sich recht erinnere, reichte das Material bis ins Mittelalter zurück. Da sei doch sicher auch etwas zum achtzehnten Jahrhundert dabei.

Direktor Humann verzog schmerzvoll das Gesicht: "Ach ja, diese Familienchronik. Ich habe gehört, dass Borowski dafür durch halb Europa gereist ist, um mit gelangweilten Baronessen literweise Likör zu und wer weiß was sonst noch zu machen, damit sie ihm Zutritt zu ihren Privatarchiven gewähren. Kein Wunder, dass er so früh gestorben ist. Bei meiner Einstellung musste ich mich selbst auch verpflichten, daran weiterzuarbeiten – und das werde ich auch tun, wenn ich mein Orgasmuswerk geschrieben habe!"

Er war verstummt, starrte vor sich auf den Schreibtisch und seufzte ein paar mal tief. Theresa und die Bibliothekarin wechselten irritierte Blicke, bis die ältere Frau vorsichtig das Wort ergriff: "Dann spricht ja nichts dagegen, dass Fräulein Theresa einmal nachschaut, ob sie etwas Relevantes zu ihrem Thema findet?!"

"Ganz unmöglich!" erwachte Humann aus seiner Starre. "Das sind doch alles Familiengeheimnisse, die da ..."

Im selben Moment wurde er durch ein lautes aber freundliches Kläffen aus dem Vorzimmer unterbrochen, dessen Tür die ganze Zeit offen gestanden hatte. Nachdem sich Rex beruhig hatte, betrat eine kleine, kompakte, blonde Dame im Jagdkostüm den Raum. Der Direktor erhob sich sofort und kam hinter seinem Schreibtisch hervor. Die Bibliothekarin deutete einen Knicks an. Nur Theresa stand etwas verlegen im Raum und wunderte sich. Sobald der Direktor seinen Handkuss vollendet hatte, stellte er ihr die Dame als die regierende Gräfin vor. Die lächelte Theresa freundlich an und gab ihr die Hand.

"Ich habe dem Fräulein grade erklärt," ergriff der Direktor nach der Begrüßung beflissentlich das Wort, "dass ich ihm unmöglich Zugang zur Familienchronik gewähren kann. Wegen der Vertraulichkeit. Die Familiengeschichte ist bei mir in sicheren Händen und macht stetige Fortschritte. Ich wollte jetzt auch endlich die Reise nach Duttenstein in nehmen, die ich schon so oft verschoben habe. Sie sehen, Frau Gräfin, in sicheren Händen."

"Das freut mich zu hören, Herr Direktor", erwiderte die Gräfin spöttisch, "aber bedenken Sie, dass meine Großcousine vor sechs Jahren verstorben ist. Oberhaupt der Duttensteiner Linie ist ihre Tochter, an die müssten Sie sich wenden, wenn Sie wirklich eimal fahren wollen."

"Sie interessieren sich also für die Familiengeheimnisse?", wandte sich die Gräfin im selben Ton an Theresa, die abgelenkt war, weil Rex an ihrem Hosenbein schnupperte.

"Äh ... nein, genau genommen sind es die Herrschaftspraktiken von ... ", Theresa war immer noch halb auf ihr Bein konzentriert, das Rex zu lecken angefangen hatte. "Einfach gesagt, es geht mir um die Reichsgräfin Marianne. Regentinnen wie sie haben in der Wissenschaft noch viel zu wenig Aufmerksamkeit erfahren."

"Sehr lobenswert! Humann, hören Sie, das ist doch mal ein Projekt, das wir unterstützen müssen. Das bin ich meiner großen Ahnin schuldig."

"Aber Gnädigste," stotterte der Direktor, "wir können uns doch nicht vor einer Außenstehenden so entblößen. Wer weiß denn schon, was Borowski da alles für Material gesammelt hat. Hier im Zettelkasten sind die Informationen immer noch am sichersten verwahrt."

"Wenn nicht einmal Sie wissen, was ihr Zettelkasten alles verbirgt, dann ist es wohl höchste Zeit, das herauszufinden. Und was Ihren nicht ganz ungerechtfertigten Einwand angeht, das Fräulein sei eine Außenstehende – sie verdient doch Kredit, wir machen sie einfach zu einem Teil des Hauses. Geben sie ihr irgendeine Anstellung, die sie zu Treue und Gehorsam verpflichtete, z.B. als Küchenmagd."

"Als Magd?", rief Theresa empört aus, so energisch, dass Rex von ihr abließ und erstaunt zu ihr hochblickte.

"Wie unsensible von mir", entschuldigte sich die Gräfin sofort. "Sie sind ja kein Bauernmädchen. Ich denke, Kammerjungfer wie Lulu wäre angebrachter. Wenn Sie sich klug und loyal zeigen, mache ich Sie zu meiner Gesellschafterin. Was sagen Sie?"

Was soll es für Theresa sein?

Want to support CHYOA?
Disable your Ad Blocker! Thanks :)