Ankunft

Evas Stiefel knirschten auf dem felsigen Boden, als sie den schmalen Bergpfad hinaufwanderte. Die dünne Luft war eiskalt und ihre keuchenden Atemzüge erzeugten kleine weiße Wölkchen vor ihrem Gesicht. Sie war stundenlang bergauf gelaufen, sie war müde und ihre Beine schmerzten.

Endlich hatte sie die Passhöhe erreicht und als sie eine Biegung des Pfades umrundete, erblickte sie zum ersten Mal das kleine Dorf. Es schmiegte sich in ein enges Tal, umgeben von zerklüfteten Bergen, und aus den Schornsteinen der steinernen Hütten stieg Rauch auf. Es sah friedlich und ruhig aus wie ein Gemälde.

Eva spürte einen Anflug von Aufregung, als ihr bewusst wurde, dass dies ihr neues Zuhause sein sollte. Sie hatte nach einem Platz gesucht, um ihrer Vergangenheit zu entfliehen, und dieses abgeschiedene Dorf schien der perfekte Zufluchtsort zu sein. Sie hoffte, dass die Dorfbewohner freundlich und einladend sein würden. Das Ziel vor Augen und die Aussicht auf eine warme Mahlzeit in einer warmen Stube gaben ihr neue Kraft und sie schritt kräftig aus.

Als sie ins Tal hinabstieg, bemerkte Eva, dass das versteckte Dorf kleiner war, als sie erwartet hatte. Es gab nur fünf bewohnte Häuser und einige Nebengebäude. Sie fragte sich, wie die Dorfbewohner fernab aller Straßen auf sich allein gestellt hier lebten.

Je näher sie der Siedlung kam, desto mehr stellte sie fest, wie sehr die Realität von ihrer romantischen Vorstellung abwich. Die hoch aufragenden, schneebedeckten Berggipfel ringsum mit den bewaldeten Flanken waren weniger majestätisch als sie es sich ausgemalt hatte. Sie türmten sich bedrohlich über dem Dorf auf und hüllten das Tal in tiefe Schatten. Die traditionellen, aus Bruchsteinen errichteten und mit Schiefer gedeckten Häuser drängten sich eng aneinander, als würden sie in der Nähe gegenseitigen Schutz suchen. Zwei angeleinte Hunde hatten ihre Witterung aufgenommen und bellten alarmiert.

Evas Gedanken wurden durch die tiefe Stimme eines Mannes unterbrochen, die plötzlich in ihrem Rücken ertönte. Sie drehte sich so schnell sie konnte um und sah einen alten Mann mit langem weißem Bart und durchdringend blauen Augen auf einem nahegelegenen Felsen stehen. Sie verstand nicht, wie er so plötzlich und von ihr unbemerkt hinter ihr auftauchen konnte. Er starrte sie intensiv von oben herab an.

"Willkommen in unserem Dorf. Bist du alleine unterwegs? Wenn es so ist, dann unterschätzt du die Gefahren, die in diesen Bergen lauern."

Eva spürte eine Gänsehaut bei den warnenden Worten des Mannes, fing sich aber bald wieder und betrachtete ihn genauer. Der Mann war trotz seines offensichtlichen Alters eine imposante Erscheinung. Obwohl sie es aufgrund seines erhöhten Standpunkts nicht genau abschätzen konnte, meinte Eva, dass er sie um mindestens einen Kopf überragen müsste. Sein wettergegerbtes Gesicht war von tiefen Falten durchzogen und von einem buschigen, weißen Bart umrahmt. Seine Augen leuchteten stechend blau und verrieten jahrzehntelange Lebenserfahrung, deuteten aber auch Härte und Strenge an. Sein ganzes Auftreten strahlte eine natürliche Autorität aus.

Er trug einfache, aber robuste Kleidung, die sich aus groben Lederschuhen, einer langen stabilen mit Leder verstärkten Wollhose, einem naturfarbenen Leinenhemd und einer Lodenjacke zusammensetzte. Ein Schafwollhut schützte seinen Kopf vor Sonne und Kälte. In seinen großen, kräftigen Händen mit rauen Fingernägeln, die von täglicher harter Arbeit zeugten, hielt er einen wuchtigen Knotenstock.

"Dankeschön", antwortete sie vorsichtig. "Ich heiße Eva. Ich bin tatsächlich alleine hierher gewandert, trotzdem danke für die Warnung. Meinen Sie, ich könnte hier eine Unterkunft finden?"

Der alte Mann nickte langsam. "Ich bin Julius, der Dorfälteste. Du könntest feststellen, dass dieses Dorf nicht der Zufluchtsort ist, den du suchst, Eva. Die Berge entscheiden selbst, ob sie unsere Erwartungen und Wünsche erfüllen."

Seine Stimme klang tief und rau und er sprach langsam und bedächtig. Obwohl er ein einfacher Bergbauer sein musste, besaß er die Respekt heischende Aura eines Mannes, der sein ganzes Leben in der wilden und unvorhersehbaren Natur der Berge verbracht und dadurch Wissen und Weisheit erlangt hat, die seinesgleichen suchte.

Eva fühlte eine leichte Unruhe bei Julius' Worten, aber sie schob sie beiseite. Sie war fest entschlossen, sich ein neues Leben aufzubauen, egal welche Herausforderungen auf sie warteten.