Evolution XXX

Chapter 1 by Taleweaver Taleweaver

Prolog: Universitätskrankenhaus Tokio, 1986

Mit einem Krachen flog die Tür zum Probenlabor aus dem Schloß, als sich drei Polizeibeamte gleichzeitig dagegenworfen. Ein vierter richtete seine Dienstwaffe auf eine hagere Person in einem weißen Kittel, die im Inneren des Raums gerade vor einem Arbeitstisch stand und nicht einmal zuckte, als hinter ihm die Labortüre demoliert wurde.

"Doktor Kadokawa, ich verhafte sie wegen den dringenden Tatverdachts der gefährlichen Körperverletzung in Tateinheit mit einem Verstoß gegen das Gentechnikgesetz in einem besonders schweren Fall!"

Langsam stellte der Mann im Arztkittel den Erlenmeyerkolben vor sich ab, den er bis eben noch in der Hand gehalten hatte und drehte sich langsam in Richtung der Polizeibeamten um. Er war vielleicht zwischen fünfzig und sechzig Jahren alt; ein fusslig wirkender weißer Bart umgab sein Kinn, und seine Gesichtszüge waren überraschend hart und zeugten von einem entbehrungsreichen Leben. Erschreckenderweise lächelte er, als seine kleinen, grauen Augen sich auf den Kriminalkommissar richteten, der ihn mit der Pistole bedrohte.

"Sie sind zu spät", kicherte der Arzt mit fast schon gelassenem Unterton. "Meine Forschungen sind beendet. Es gibt nichts mehr, was ihr Reaktionäre vom Staat mir noch wegnehmen könnt!"

"Treten sie vom Tisch weg!" fuhr der Polizist den Wissenschaftler an, wobei er über den Lauf seiner Dienstwaffe auf seine Brust zielte. "Hände so, daß ich sie sehen kann, und dann langsam herunter auf die Knie!"

Dr. Kadokawa lachte laut auf. "Knieen?" prustete er heraus. "Ich werde nie wieder knieen müssen; nicht in meinem ganzen Leben! Dieses Land wird mir zu Füßen liegen! Ich habe den Traum erfüllt, den die Menschheit seit endlosen Zeiten hatte. Ein neues Zeitalter wird anbrechen!" Sein Blick senkte sich ein wenig zu den Taschen seines Kittels herab. "Und hier trage ich bei mir den Schlüssel", deklamierte er feierlich, "der die Pforten des neuen Zeitalters aufschließen wird." Mit diesen Worten glitt seine rechte Hand in die Tasche des Kittels.

Zwei Schüsse aus der kleinen Polizeipistole des Kommissars trafen ihn in die Brust und warfen den Wissenschaftler zu Boden.

"Zu spät..." waren die letzten Worte Dr. Kadokawas, ehe ihm das Bewußtsein für immer schwand.
Zwischen den Fingern in seiner Tasche sickerte aus den Splittern eines zerbrochenen Reagenzglases eine klare, geruchlose Flüssigkeit in den Stoff des Arztkittels.


"Ich kann ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich bin, daß sie diesen Fall vertraulich behandeln."

Mit einem Blick, aus dem man mit etwas Mühe eine gewisse Verachtung hätte herauslesen können, blickte der Kommissar zum Leiter des Universitätskrankenhauses, einem Professor Imagawa. Für seinen Geschmack war der kleinwüchsige, leicht korpulente Arzt ein bißchen zu höflich, zu unterwürfig für einen hochangesehenen Wissenschaftler. Andererseits hatte er um den Ruf seiner Klinik zu fürchten - wenn bekannt wurde, daß einer der Ärzte insgeheim an biologischen Waffen gearbeitet hatte, wäre das ein Skandal ohne Gleichen, den sich das Krankenhaus nie und nimmer leisten konnte. Vielleicht war sein Verhalten doch nur ganz normal für einen Mann in seiner Position...

Der Kommissar riß sich selbst aus seinen Gedankengängen heraus. "Ihr Dank ist nicht nötig, Professor", gab er zurück, "statt dessen sollte ich mich bedanken, daß sie sich so schnell an die offiziellen Stellen gewandt haben, als sie von den illegalen Forschungen ihres Kollegen erfuhren. Wahrscheinlich haben sie durch ihre schnelle Entscheidung einen großen Schaden vermieden. Schon die Tatsache, daß Kadokawa Menschenversuche an den Patienten geplant hatte... kaum auszudenken!"

"Genau das hat mein Handeln bestimmt", pflichtete Professor Imagawa ihm bei. "Die Sicherheit der Patienten ist das höchste Gut im Universitätskrankenhaus Tokio - das war sie schon immer - und ich danke den Göttern, daß Dr. Kadokawa mit seinen finsteren Forschungen nicht zum Ende kam."

Der Kommissar blickte den Leiter des Krankenhauses einen Moment nachdenklich an. "Sind sie sicher", warf er dann ein, "daß wirklich keine Gefahr für einen Patienten bestand?"

"Aber natürlich!" beeilte sich der untersetzte Arzt zu antworten. "Was bringt sie auf den Gedanken, es könnte etwas geschehen sein, daß eine Bedrohung darstellt?"

Mit ruhiger Stimme erklärte der Kommissar seine Bedenken: "Es war etwas, das Kadokawa gesagt hatte", meinte er. "Als wir ihn stellten, erwähnte er, wir seien zu spät, und er habe seine Forschungen bereits beendet. Er erwähnte etwas von einem Schlüssel zu einem neuen Zeitalter..."

"Geplapper eines Wahnsinnigen", wiegelte Professor Imagawa die Bedenken ab. "Sie haben doch selbst die Studien gesehen: die Kulturen von Retroviren brauchen 72 Stunden zur Entwicklung, und sie konnten ihn noch lange aufhalten, ehe diese Frist verstrichen war. Die Zuchtkanister sind inzwischen sterilisiert. Dr. Kadokawa hatte nichts in der Hand."

Mit einem etwas unzufriedenen Grummeln ließ es der Kommissar dabei bewenden. Der Institutsleiter verbarg etwas, dessen war er sich sicher, doch es gab keine Möglichkeit, das nachzuweisen. Es stimmte, die Aufzeichnungen, die man beschlagnahmt hatte, wiesen darauf hin, daß Kadokawas Projekt noch nicht beendet gewesen war - zwar in der Endphase, doch nicht abgeschlossen. Aber hatte Kadokawa - immerhin ein offensichtlicher Wahnsinniger - tatsächlich über alle seine Experimente Buch geführt? Einiges sprach dafür; immerhin war er ein fast zwanghaft korrekter Wissenschaftler. Aber konnte man einem kranken Geist wirklich trauen?

Der Kommissar entschied, daß er keine Lust hatte, sich weiter in diese Geisteswelt einzuarbeiten und ließ es dabei bewenden.

Und als er das Krankenhaus zusammen mit seinem Kommando wieder verlassen hatte, stieß Professor Imagawa einen Seufzer der Erleichterung darüber aus, daß die fehlende Seite in den Anhängen der Protokolle seines inzwischen toten Kollegen nicht aufgefallen war.

Neben allen Ergebnissen hatte Dr. Kadokawa auch intensiv darüber Buch geführt, welche Mengen an Versuchsmaterial ihm zur Verfügung standen. Er war ein pathologisch überkorrekter Mensch, der keine Fehler bei der Dokumentation machte. So hatte er in einem Anhang auch die genaue Menge einer Virenkultur, die er als "Impfstoff 30" bezeichnete, vermerkt.

Zwischen der dort vermerkten Menge und der, die man im Labor entdeckt hatte, bestand eine Diskrepanz. Keine große, aber immerhin groß genug, um mindestens drei Menschen mit einer Menge der Viren zu "impfen", die groß genug war, daß die Viren eine gute Chance hatten, sich alleine zu vermehren. Und auch wenn das Virus noch nicht voll ausgereift war, so verrieten doch die Testergebnisse, daß es in der Lage war, das letzte Reifestadium auch innerhalb des menschlichen Blutkreislaufs zu erlangen.

Hatte Dr. Kadokawa mit den Menschenversuchen doch schon begonnen?

Professor Imagawa hatte seinen Verdacht niemandem mitgeteilt und die Seite des Anhangs, auf der man die fehlende Menge von "Impfstoff 30" hätte nachvollziehen können, durch den Aktenvernichter gejagt. Nun galt es nur noch darauf zu achten, ob es unter den Patienten seiner Klinik irgendwelche besonderen, mysteriösen Vorfälle gab, die man auf ein unbekanntes Virus zurückführen konnte. Zwar war ihm der Schutz seiner Klinik das wichtigste Ziel, doch er war Arzt genug, daß er auch die Verantwortung getragen hätte, wenn etwas geschehen wäre.

Doch fast siebzehn Jahre lang geschah überhaupt nichts.

Bis zu einem heißen Vorsommertag im Mai 2003...

Wie geht es weiter?

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