Sieben Jahre später

Der Anruf kam völlig überraschend. Ich kam gerade von einem abendlichen Spaziergang in mein Strandhaus zurück und wollte mir etwas zum Abendessen machen, als das Telefon plötzlich klingelte. Das Telefon klingelte sonst nie, weil ich keine Freunde, keine engen Bekannte und auch keine **** mehr hatte. Ich besaß eigentlich sowieso nur ein Telefon, weil ich den Anschluss vom Vorbesitzer übernommen hatte. Als ich den Hörer abhob, hörte ich die Stimme der Person, die ich am meisten aus meinem Leben zu verbannen gehofft hatte. „Was willst du von mir?“ fragte ich abweisend. Ich hatte eigentlich die Absicht, sie rasch abzuwimmeln, aber ihre Stimme klang drängend, als sie mir mitteilte, dass sie meine Hilfe benötigte.

Als ich am nächsten Tag am Bahnhof wartete, war ich immer noch sehr aufgewühlt. Ich hatte mehrere Jahre lang gebraucht, um halbwegs über den Verlust meiner Frau und meiner kleinen Tochter hinwegzukommen. Mir war die Möglichkeit genommen worden, ein gemeinsames Leben mit der einzigen Liebe meines Lebens zu verbringen und dabei unsere kleine Tochter aufwachsen zu sehen. Sie musste inzwischen bereits acht Jahre alt sein und zur Schule gehen. Nun hatte meine Exfrau mir mitgeteilt, dass sie heute zu dritt mit dem Mittagszug ankommen würden. Wollte Waltraud mir etwa aus irgendeinem Grund ihren neuen Lebenspartner unter die Nase reiben? Nun, in wenigen Minuten hoffte ich mehr über ihre wahren Motive zu erfahren.

Als die drei Personen aus dem Zug stiegen, war ich im ersten Moment vollkommen geplättet. Auf den ersten Blick war Waltraud immer noch fast genauso hübsch wie früher, erst beim näheren Hinsehen bemerkte man, dass das Leben seine Spuren hinterlassen hatte. Außerdem hatte sie im Vergleich zu früher abgenommen, das Mädchenhafte war fast völlig verschwunden. Die erste Person an ihrer Seite war ein bildhübsches, achtjähriges Mädchen mit langen, blonden Haaren und großen blauen Augen, mit denen es mich neugierig ansah. Die zweite Person war für mich überraschend ein süßes, etwa sechs- oder sieben Jahre altes Mädchen mit einem langen, braunen Pferdeschwanz, das sich ein wenig scheu hinter dem Rücken seiner Mutter versteckte.

„Das ist deine Tochter Melanie“, stellte Waltraud das ältere, blonde Mädchen nicht ohne Stolz vor. „Und das ist deine Tochter Melissa“, sagte sie und schob das jüngere Mädchen mit dem Pferdeschwanz vor mich hin. „Mama hat mir deine Bilder gezeigt“, sagte sie und legte nach kurzem Zögern ihre dünnen Arme um mich. Ich war einen Moment sprachlos, weil ich mit so etwas überhaupt nicht gerechnet hatte. „Ich habe erst gemerkt, dass ich wieder schwanger bin, als du schon weg warst“, erklärte mir Waltraud. „Ich habe sofort aufgehört, als Prostituierte zu arbeiten, und von da an war es das Wichtigste in meinem Leben, mich um unsere Töchter zu kümmern und sie auch in deinem Sinne zu den liebenswerten und wundervollen Kindern zu erziehen, die sie heute sind.“

Waltraud zog mit unseren beiden kleinen Töchtern in mein Strandhaus ein. Wir machten zusammen lange Strandspaziergänge und unterhielten uns stundenlang. Nachts schliefen Waltraud und ich zusammen in meinem Schlafzimmer. Obwohl ich wusste, dass Waltraud starke Schmerzmittel nahm, wirkte sie so glücklich und zufrieden wie in früheren Zeiten. Nach vier Monaten wurde sie jedoch zusehends schwächer, und eines Morgens wachte sie nicht mehr auf. Als ich mit meinen beiden Töchtern bei der Beerdigung am offenen Grab stand, fragte Melissa mich, ob ihre Mama jetzt im Himmel sei. Ich antwortete: „Jemand, der mir zwei solche Engel wie euch geschenkt hat, kommt bestimmt in den Himmel.“ Mein Leben hatte nun mit den zwei kleinen Kindern, um die ich mich kümmern musste, wieder einen Sinn bekommen …