Neue Skalen

Anna begann nun doch, sich ein wenig Sorgen um Maria zu machen. Doch ehe sie nach ihr schauen konnte, klingelte schon wieder das Handy.

"Ja?"

Sie legte es ans Ohr, aber sobald der erste Ton herauskam, zuckte sie weg und hielt es soweit wie nur möglich entfernt, ihr Gesicht schmerzlich verzerrt.

"WAS HABT IHR GEMACHT?", schrie Vanessa aus dem Lautsprecher, "Ich hatte dir doch gesagt, du sollst warten, bis ich Bescheid gebe, dass die Messgeräte neu kalibriert sind."

"Ähm, ja, also, wir, äh, ich ...", druckste Anna betreten herum, "Ich hatte keinen solch starken Effekt erwartet. Was soll ich sagen? Tut mir leid?"

"Ja, wie auch immer", wiegelte Vanessa unerwartet ab, "Schaden ist glücklicherweise keiner entstanden. Ich war gerade mit dem Upgrade fertig und wollte alles nur noch testen, als es losging. Das Gute ist, die Tests kann ich mir jetzt sparen. Alles wurde aufgezeichnet wie geplant."

Anna atmete erleichtert aus. "Und?"

"Die Daten sind unglaublich! Marias emotionale und hormonelle Werte sind höher, als jemals bei irgendeinem Menschen dokumentiert wurde. Und mittlerweile permanent doppelt so hoch wie bei einer Person, die mit weiblichem Genom geboren wurde. Ich muss mir unbedingt Gedanken über eine nochmalige Erweiterung meiner Apparate machen, damit die Skalen ausreichen. Maria ist nach allem, was ich hier sehe, eine hundertprozentige Frau. Ach was sage ich, eine Superfrau. Ich frage mich: Haben wir ein Monster erschaffen?"

Anna wusste nicht, was sie antworten sollte. Sie hatte Mühe zu verarbeiten, was sie da hörte. Mehrmals klappte ihr Mund auf und zu, ohne dass ein Ton herauskam, wie bei einem Fisch auf dem Trockenen.

Vanessa war so überdreht, dass sie nicht aufhören konnte zu reden. Die Worte sprudelten einfach aus ihr heraus.

"Hast du zufällig Videoaufnahmen gemacht? Das wäre der absolute Hammer, wenn ich diese Messreihen mit Bilder unterlegen könnte. Du musst mir unbedingt alles ganz genau erzählen, damit ich es aufschreiben kann. Nein, warte, sag nichts. Ich komme sofort zu euch rüber, dann kann ich alle selbst sehen und Fotos machen. Verändert nichts! Lasst alles genau so, wie es war. Und dann müssen Maria und du mir aus erster Hand erzählen, was passiert ist und was ihr dabei empfunden habt. Bis gleich!"

Noch minutenlang, nachdem die Anruferin aufgelegt hatte, starrte Anna auf das schwarze Display ihres Smartphones. Was geschah hier? Sie verstand nicht ganz, woran Vanessa forschte, doch es hatte irgendwas mit einem Medikament oder einer Droge zu tun, die sie Marius heimlich verabreicht hatte. Die Effekte waren mehr als verblüffend und für den Probanden sehr drastisch, die Veränderungen an seinem Äußeren und seiner Persönlichkeit revolutionär, geradezu unheimlich. Anna schauderte.

Zu Beginn war es ihr ja noch ganz angenehm und positiv erschienen, dass Marius sie nicht mehr unterdrücken und missbrauchen konnte. Der Mistkerl hatte diese Lektion wirklich verdient. Doch inzwischen fragte sie sich, ob es nicht zu weit ging, was das Experiment mit ihm anstellte.

Das wirklich Erschreckende war: Soweit sie wusste, hatte Vanessa das Mittel zunächst im Selbstversuch getestet. Das hieß, sie hatte die gleichen **** im Blut. Was hätte das für Auswirkungen auf sie?

Anna zog die Beine hoch auf den Sessel, umklammerte ihre Knie mit beiden Armen und kauerte sich so klein wie möglich zusammen. Sie dachte darüber nach, wie sie selbst Maria behandelt hatte. Sie war dominant und zeitweise richtiggehend **** aufgetreten. So etwas hätte sie früher nie über sich gebracht. War das nur aus einer spontanen Laune heraus geschehen? Oder hatte sich lange aufgestaute Wut und Frustration da Bahn gebrochen? War sie es selbst gewesen, die gehandelt hatte, oder veränderte sich ihre Persönlichkeit auch? Als sie gemeinsam den Plan ausgeheckt hatten, dem Maulhelden Marius eins auszuwischen, hatte Vanessa auch ihr eine Dosis des Elixiers angeboten.

Und sie hatte es getrunken.