Marina lernt die Küchengemeinschaft kennen

„Aber wir können den heutigen Abend dazu nutzen, dass du unsere Küchengemeinschaft endlich kennenlernst“, schlägt Birgit in einer Art vor, die eigentlich keinen Widerspruch duldet. „Werden nicht alle da sein – sind sie eigentlich nie –, aber wohl doch die meisten, denke ich. Hast ja gestern schon mitbekommen, dass sich immer zwei Flure zu je 12 Zimmern eine Küche mit Vorratsschränken und Essplätzen teilen. Dann werde ich dich mal mit den anderen 22, sofern anwesend, bekannt machen. Sind ja die Bewohner der Zimmer 25 bis 36 und 37 bis 48, wobei 35 und 36 auf uns beide entfällt.“

Als die beiden die in der Tat nun gut besuchte Küche betreten, werden sie von einer ganzen Anzahl Augenpaaren interessiert angeguckt. Birgit stellt Marina vor, die auch etwas über sich erzählt, und wird herzlich von den anderen begrüßt.

„Und bevor ihr alle durcheinanderredet und sich die arme Marina erst recht nicht auf Anhieb merken kann, wer wer ist und in welchem Zimmer wohnt, überlasst mir bitte die Vorstellung. Ich werde es systematisch nach den Zimmernummern machen.“ Und so breiten sich abrupt Schweigen und gespannte Erwartung auf freundlichen Gesichtern aus, und Birgit kann beginnen:

„Zimmer 25 und 26 wohnen unsere Zwillinge, Nora und Nina, studieren beide Volkswirtschaft.“ Die beiden schwarzhaarigen Schönheiten, offensichtlich eineiig, begrüßen Marina fröhlich. „Die beiden haben es faustdick hinter den Ohren: Haben zusammen sich schon so manchen Jungen klargemacht und diese in dem Glauben gelassen, sie hätten es nur mit einer von beiden zu tun“, ergänzt Birgit, was Nora mit „nicht nur Jungs!“ breit grinsend Marina anblickend kommentiert. Darauf geht Birgit aber nicht ein, sondern macht weiter:

„Die Bewohner von Zimmer 27 und 28 haben wir hier, ebenfalls Geschwister, allerdings Junge und Mädchen aus Nordfrankreich, René und Renée – sorry, Leute, ich kann’s nicht so aussprechen, dass man’s hört, aber eure Eltern waren bei der Namensgebung nicht gerade erfinderisch.“ Die beiden Angesprochenen reagieren darauf mit einem herzhaften Lachen und begrüßen ebenso herzlich Marina. „Studieren beide Ethnologie“, ergänzt Birgit noch.

„Zimmer 29 wird bewohnt von Martin, der Theologie studiert und mit seinem besten Stück Frauen lautstark zum Beten bringt, wie so ziemlich alle hier schon mal hören konnten.“ Alle kichern, während Martin seinerseits die deutlich verlegene Marina begrüßt. Aber auch davon lässt Birgit sich nicht irritieren.

„Kommen wir zu Igor, Amerikanistik-Student, Zimmer 30. Wo steckt er?“

„Ist in seinem Zimmer“, antwortet Nina, „du weißt doch, wegen seiner starken Sehbehinderung mag er es nicht, wenn’s hier so voll ist.“

„Dann schauen wir nachher bei ihm vorbei“, sagt Birgit zu Marina gewandt und fährt fort:

„Zimmer 31 und 32, Adam aus Polen und Eva aus Österreich, studieren beide Germanistik und sind sich einander sehr zugetan, haben es aber noch nicht geschafft, miteinander in die Kiste zu gehen.“ Die Rotfärbung der Gesichter der beiden ist nun der von Marina nicht unähnlich, so fällt die Begrüßung untereinander ziemlich schüchtern aus. Auch davon gibt Birgit sich unbeteiligt und macht nahtlos weiter mit der Vorstellungsrunde:

„In Zimmer 33 wohnt Virve, Geographie-Studentin aus Finnland“, stellt sie nun ein flachsblondes hoch gewachsenes Mädchen vor, das nach der Begrüßung mit Marina Birgit fragt, ob es eine Anti-Schock-Therapie geben solle. „Natürlich, wir kommen nachher zu dir aufs Zimmer“, antwortet Birgit, die der fragend guckenden Marina ein „Erklär ich dir später“ zuraunt und zum nächsten Zimmer übergeht:

„Zimmer 34 bewohnt unsere Kunststudentin Natascha ...“

„Bewohnte“, schaltet sich Martin ein, „die hat heute Vormittag doch als Nachrückerin die lang ersehnte Zusage der Uni Mailand bekommen, muss da aber morgen früh schon vorstellig werden, hat sich also in Windeseile von allen verabschiedet, die gerade da waren, und ist zum Flughafen gefahren, und ihr Onkel hat ein Speditionsunternehmen beauftragt, das in Nullkommanix ihr Zimmer geräumt hat.“

„Oh“, sagt Birgit nur, „das ist echt eine Überraschung. Hauptsache, es bringt ihr das, was sie sich davon erhofft. Okay, das Zimmer steht im Moment leer. Sicher nicht lange. Zimmer 35 und 36 bewohnen Marina bzw. ich. Kommen wir also zum anderen Flur.“