Im Nebel

Vaelthar, so stolz und unbezwingbar er auch war, hatte seine Schwäche – eine Schwäche, die tief in uralten Ritualen verwurzelt lag. In einer Zeit, als die Menschen noch Kerzen entzündeten, um die Dunkelheit zu bannen, und in ehrfurchtsvoller Stille seinen Namen flüsterten, war ein Abkommen geschlossen worden. Jedes Jahr würde das Dorf am Rande des Waldes ihm ein junges Mädchen opfern – eine Jungfrau, rein und unschuldig. Im Gegenzug versprach Vaelthar, das Dorf vor allen Gefahren zu schützen: vor Räubern, Hungersnöten, Naturkatastrophen. Und vor sich selbst.

Doch die Zeiten hatten sich geändert. Das Dorf war längst kein kleiner Weiler mehr, sondern eine Kleinstadt mit Glasfassaden, Tankstellen und Supermärkten. Dennoch hielt man starr an diesem dunklen Geheimnis fest. Niemand wagte es, den Vertrag zu brechen. Nicht, weil man noch an die alten Götter oder den Zorn des Drachen glaubte – sondern weil niemand bereit war, die Konsequenzen zu tragen, wenn sich Vaelthar an die Vereinbarung erinnert fühlte. Es war einfacher zu schweigen, die Augen zu verschließen und so zu tun, als gäbe es keinen Drachen im Wald und keine Opfer, die alljährlich verschwanden.

Vaelthar war nicht nur eine Legende – er war auch ein Relikt aus einer anderen Zeit, ein Überbleibsel einer Welt, in der Götter und Menschen Handel trieben und Blutopfer den Frieden sicherten. In den Geschichten des Dorfes war der Drache ein Schutzpatron, ein heiliger Wächter, der sie seit Jahrhunderten vor Feinden und Katastrophen bewahrte. Doch dieser Schutz hatte seinen Preis.

Jedes Jahr, zur Sommersonnenwende, versammelte sich das Dorf in einer düsteren Mischung aus Tradition und Unbehagen. Der Bürgermeister, zugleich Hüter des alten Wissens, führte die Prozession an. In den Händen hielt er eine weiße Fahne, ein Zeichen des Friedens – und der Kapitulation. Hinter ihm schritten die Mädchen, schweigend, die Köpfe gesenkt. Ihre Kleidung war nicht erlaubt, ein Überbleibsel aus Zeiten, in denen Reinheit wörtlich genommen wurde. Keiner wagte, das Ritual infrage zu stellen. Die Angst vor Vaelthar, der über ihnen wachte, saß zu tief.

Das Abkommen war älter als jede lebende Seele im Dorf. Es besagte, dass Vaelthar jedes Jahr eine Jungfrau erhielt – ein Tribut an seine Stärke und eine Bestätigung seines Schutzes. Für die Menschen war es längst ein Geheimnis, etwas, worüber niemand sprach, außer im Flüsterton und hinter verschlossenen Türen. Es war ihnen peinlich, ein barbarisches Relikt, das nicht in die moderne Welt passte. Doch ebenso wie sie die Abmachung verachteten, fürchteten sie den Zorn des Drachen, sollten sie das Ritual brechen.

Vaelthar selbst hatte die Vereinbarung nie hinterfragt. Für ihn war es kein Ausdruck von Bosheit, sondern ein altes Versprechen, das beide Seiten verband. Die Ankunft der Mädchen zur Sommersonnenwende war für ihn keine Lust, sondern eine Erinnerung daran, wie **** Menschen sein konnten – und wie sehr sie Schutz brauchten. Doch tief in seinem Herzen wusste er, dass auch dieses Ritual verblassen würde. Die Zeit veränderte alles, und auch er konnte sich dem nicht ewig entziehen.

Doch bis dahin blieb die weiße Fahne, das Schweigen des Dorfes und der Marsch der Mädchen ein unvermeidlicher Teil seiner Existenz. Eine Schwäche, ja. Aber auch eine Verbindung zu einer Welt, die ihn einst geformt hatte. Auch wenn er es eigentlich besser wusste - ganz sicher war sich Vaelthar nicht, ob ohne den Ritus der Fortbestand der Drachendynastie gesichert wäre.