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Chapter 3 by Mercadus Mercadus

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Fensterplatz

Fensterplatz Teil 1

Michelle steht barfuß auf dem kalten Steinboden des Studentenwohnheims. Nur ein langer, grauer Pulli – nicht ihrer – der über ihre Oberschenkel fällt wie ein schmutziges Versprechen. Draußen ist es 7:46 Uhr. Auf dem Campus tobt der Dienstag. Dröhnende Rucksäcke, Kaffeebecher, Weltverbesserer in Jogginghosen. Und sie. Am Fenster. Sichtbar. Breitbeinig. Nackt darunter.

„Du musst lernen, den Augen standzuhalten, ohne zu wissen, ob sie dich überhaupt sehen.“ Thomas hatte es gesagt, während er eine Orange filetierte, als sei das ein chirurgischer Akt.

„Das ist krank“, hatte sie geantwortet, aber sie stand jetzt trotzdem hier. Herzklopfen in der Kehle, als hätte sie ein zweites schlagendes Organ verschluckt.

Thomas nennt es *Verlernen*. „Die Welt hat dir beigebracht, dich zu schämen, bevor du überhaupt wusstest, warum. Ich helfe dir nur beim Entlernen.“

Er ist kein Sadist. Er ist ein Architekt. Er plant sie neu, von innen. Ein Umbau mit kahlen Wänden und Neonlicht.

Im Spiegel – einem dieser 5-Euro-Ikea-Dinger, der nur aus Alufolie mit Ambitionen besteht – sieht sie sich. Nicht sexy. Nicht schön. Nur roh. Fleisch unter einer Idee.

Er hat ihr das Handy weggenommen, um ihr „die Hände frei zu machen“. Für was, sagte er nicht.

Gestern hat er ihr die Unterhose weggenommen, bevor sie zur Vorlesung ging. „Wenn du beim Sitzen an dich denkst, denkst du endlich mal nicht an die anderen.“

Das hier ist keine Beziehung. Es ist ein Experiment. Sie ist das Protokoll. Thomas ist die These. Vielleicht auch der Fehler.

Fensterplatz Teil 2

Später wird sie sagen, dass sie es selbst wollte. Weil das einfacher ist, als zu erklären, warum sie nichts dagegen hatte.

Thomas nennt es *Programmierung durch Abrieb*. Er glaubt, dass Menschen nur dann echt werden, wenn man ihnen Schicht für Schicht die Fassade abschleift, bis darunter nichts mehr bleibt. Und wenn da wirklich *nichts* ist – umso besser. Dann kann man anfangen, etwas *Eigenes* aufzubauen.

Heute war ihr Auftrag einfach. Keine Unterwäsche. Bibliothek. Gang C. Sitzplatz 12. Rock aus Leinen, hell. Kein Zettel, kein ****. Nur ein Blick, heute Morgen, wie ein Fluch, der sich im Nacken festsetzt.

Sie sitzt. Beine zusammen, wie man es „anständig“ macht. Aber jeder Zentimeter ist Hochspannung. Jeder Lufthauch unter dem Tisch eine kleine Apokalypse.

Die Bibliothek ist leise. Nicht ruhig – leise wie eine tickende Bombe. Jeder Atemzug fühlt sich wie ein Mikrofon an. Sie versucht zu lesen. Aber die Wörter schmelzen zu Pfützen auf dem Papier.

Dann kommt er. Thomas. Nicht zu ihr. Nein. An Tisch 8. Sie sieht nur den Rücken. Weißes Hemd, ordentliche Falten. Ein Professor würde ihn mögen. Oder hassen, weil er sich nicht einschüchtern lässt.

Er dreht sich nicht um. Er spricht nicht. Und trotzdem brennt sein Blick auf ihrer Haut wie ein zweiter Sonnenbrand.

Sie denkt: *Ich bin nicht krank.*

Aber sie merkt, dass der Gedanke nicht ihr eigener ist.

Was Thomas will, ist keine Kontrolle. Kontrolle ist für Anfänger. Thomas will *Einverleibung*. Er will, dass sie seine Stimme hört, wenn sie mit sich selbst spricht.

Er nennt es *Identitätsmiete*. Sie ist nur kurz drin – denkt sie. Bald zieht sie wieder aus. Aber jeder Tag macht es schwieriger, sich an ihre alten Wände zu erinnern.

Und irgendwann – das weiß sie – wird sie nackt im Spiegel stehen und sich fragen, ob das überhaupt ihr Körper ist. Oder nur eine Hülle, die Thomas aus Papier gefaltet hat.

Fensterplatz Teil 3

12:49 Uhr. Die Tür quietscht wie ein alter Filmriss. Der Fliesenboden klebt, obwohl er sauber aussieht. Drei Pissoirs, zwei Kabinen, kein Fenster. Es riecht nach Desinfektionsmittel und gescheiterter Männlichkeit.

Michelle steht in der Tür. Rock, Shirt, nackte Beine. Die Luft ist kalt an Stellen, die sonst nie Luft spüren.

Sie zögert.

„Wenn du etwas *nicht kannst*, musst du es *dreimal* tun“, hatte Thomas gesagt.

Heute früh. Beim Frühstück. Ohne Kontext. Nur dieser Satz und dann die Zahnbürste in seinem Mund wie ein Schweigezeichen.

Michelle geht rein. Kabine links. Tür zu. Aber sie schließt nicht richtig – das Schloss hängt. Thomas wusste das. Er hatte diese Toilette ausgesucht. Natürlich. Nichts ist Zufall.

An der Wand Zahlen Telefon-Nummern BLASE GEIL gekritzelpeniseddingschwarz. gebohrtes Loch klein mit einen Stück Tempo verschlossen. Loch groß, ein Blatt Toilettenpapier mit Spucke an die Kabinenwand geklebt, damit keiner herüber linsen kann - Popel, Samenbahnen, Sprüche von FICKEN und dem FC BAYERN oder BVB Sportsfreunde wichsenfürdenverein eben sowas halt.

Sie steht nicht, sie sitzt nicht. Sie *verharrt*. hockt. Die Kacheln werfen ihr Spiegelbild in Fragmenten zurück: nackte Oberschenkel, angespannte Waden, das Flimmern eines Gesichts, das sich nicht mehr sicher ist, ob es errötet oder verdampft.

Dann: Schritte. Stimmen. Lachen. Zwei Typen. Laut, unachtsam, lebendig.

Sie hält die Luft an. Ihre Beine zittern. Ihr Gehirn pulsiert in Bildern: Was, wenn sie das Schloss testen? Was, wenn sie sie sehen?

Aber nichts passiert. Noch nicht. Sie fragt sich: Warum bleibe ich?

Aber der Gedanke kommt nicht aus ihrem Kopf. Er ist... leiser. Wie ein Echo aus einem Keller, den Thomas eingerichtet hat.

Ein Moment vergeht. Dann noch einer. Der eine Typ wäscht sich die Hände. Der andere pinkelt. Laut. Lacht. Und plötzlich: absolute Stille. Eine Sekunde zu lang.

Sie hören sie. Irgendetwas an der Atmung, ein kleiner Schatten unter der Tür. Und dann sagt einer: „Ist da wer?“

Michelle friert. Ihr Herz schlägt wie ein Stempel. Noch ein Satz. Ruhiger. Tiefer. Etwas wie: „Hey... alles gut da drin?“

Sie sagt nichts. Kann nichts sagen. Denn: was wäre *die richtige Antwort*?

Dann kommt das Geräusch von Schuhen, die sich nähern. Und sie merkt, dass sie feucht ist. Nicht vor Angst.

Die Tür schlägt zu – Leere. Sie sind weg. Minuten später vielleicht. Oder Stunden. Zeit hat keinen Wert hier. Nicht für sie.

Sie steht auf, zitternd. Sie ist durch eine Wand gegangen. Nicht unversehrt, aber durch. Sie wischt sich über die Beine, als wollte sie den Moment aus der Haut rubbeln.

Als sie rausgeht, steht Thomas draußen. Lehnt an der Wand. Er fragt nicht: „Und? Wie war’s?“.Er sagt nur: „Du wirst es nochmal tun.“

Fensterplatz Teil 4

Sie geht freiwillig zurück. Nicht, weil er es gesagt hat. Sondern weil er es nicht gesagt hat. Thomas schweigt mittlerweile öfter, und genau das ist der neue Befehl. Schweigen ist Raum. Raum, den sie füllen muss. Sonst ist sie leer.

13:12 Uhr. Die Herrentoilette ist leer. Oder nicht. Das ist der Trick. Keine Gewissheit mehr. Nur Möglichkeitsräume.

Michelle geht in die rechte Kabine. Nicht die linke, in der sie vorher war. Die rechte hat keine Spuren. Keine Erinnerung. Noch nicht.

Sie steht nicht. Sie hockt. Rücken zur Kabinenwand, die Knie angewinkelt, Hocke, der Rock hochgeschoben, der Blick auf das große Loch gerichtet – nicht erwartend, ihre Scham nur Zentimeter über dem Boden. Bereit. Ausgeliefert.

Es ist der Moment, in dem sie nicht mehr fragt: *Was mache ich hier?*

Sondern: *Wen erwarte ich gerade?*

Die Luft ist dick. Die Fliesen saugen Scham wie poröses Fleisch. Ihre Unterlippe zittert, aber sie beißt sich nicht drauf. Sie *will* spüren. Alles.

Dann: Schritte.

Langsam. Gummisohlen. Ein Schatten vor der Kabinentür. Keine Stimme. Kein Klopfen. Nur Atmen. Schwer. Männlich.

Sie bewegt sich nicht. Kein Zittern. Kein Blinzeln. Nur das rhythmische Pochen in ihrer Scham. Sie presst ihre Hand zwischen ihre Beine, wie Mundzuhaltenleisesein und drückt in die Nässe.

Bleibt vor der Tür kurz stehen. Und sie sieht: Turnschuhe. drei Streifen. Jeans. Kein Thomas. Nicht die Lederschuhe. Nicht der saubere Stil.

Und sie bleibt.

Sie bleibt.

Sie *bleibt.*

Die Tür bleibt geschlossen, kein Eindringen. Der Fremde geht um die Kabine herum, er steht hinter ihr - nur diese dünne Wand dazwischen. Ihr Kopf rast die Fliesen rauf und runter, Fugen, Flecken Hinterkopf an die Wand gepresst die Beine leicht gespreizt. Für eine Sekunde füllt sie die Hand unter der Kabine durchgleiten, prüfen, streichen verharren. Ihr Kopf explodiert, die Frucht zerplatzt.

Sie kann nicht mehr sagen ob es geschieht oder sie es sich nur so verdammt wünscht, huscht mit ihrer Hand nach unten ...

Dann: Schnell eilig. Die Schritte verschwinden. Kein Wort. Kein Geräusch.

Und erst dann – als die Leere zurückkehrt – stürzt sie ein. Wie eine Bühne nach dem letzten Akt.

Michelle steht nicht sofort auf. Sie hockt nur da, wie weggeworfen. Ihre Hände bedecken ihr Gesicht, aber es hilft nicht. Die Tränen tropfen durch die Finger wie Beweise.

Sie schluchzt nicht. Sie zerbricht leise. Wie Porzellan, das niemand fallen hört.

Nicht weil etwas passiert ist – sondern weil es *nicht passiert* ist. Weil sie sich angeboten hat wie ein Opfer, ohne sicher zu sein, ob es jemand war, der sie kannte. Ob es Thomas war. Ob sie es war. Ob es überhaupt war.

Fensterplatz Teil 5

Die Kabine ist still. Nur das Tropfen aus dem Waschbecken. Michelle hockt noch immer da, wie ein aufgerissenes Tier. Rock hoch, Augen leer, Tränen wie Öl – langsam, schwarz, zäh.

Die Tür geht auf.

Kein Klopfen.

Nur das Quietschen der Scharniere, die sich nicht mehr erklären müssen.

Thomas steht da. Neutral. Kein Blick, der fragt *Warum?* Kein Gesicht, das ihre Scham spiegelt. Nur Präsenz. Wie ein Polizist am Tatort.

Sie hebt den Kopf, langsam. Er sieht sie an, aber nicht wie ein Mann eine Frau ansieht. Sondern wie ein Bildhauer seinen halbfertigen Marmorblock betrachtet: mit Distanz, aber Fokus.

„Komm mit,“ sagt er. Kein Befehl. Kein Angebot. Nur eine Richtung.

Sie zögert. Vielleicht aus Scham. Vielleicht, weil ein kleiner Teil von ihr gehofft hatte, dass er *nicht* kommt. Dass sie hier bleiben darf, allein mit dem Versagen. Dass das die Strafe ist.

Aber er wartet nicht.

Er geht voraus. Langsam. Wie ein Rätsel, das sich nicht drängt, gelöst zu werden.

Sie zieht den Rock runter. Langsam. Steht auf. Wankt. Wie jemand, der nicht weiß, ob sie aus einem Albtraum oder aus einem Traum erwacht.

Draußen läuft die Welt weiter. Ein Typ mit Kopfhörern, ein Mädchen mit Müslibecher und Büchern. Niemand sieht sie an. Keiner weiß, dass sie sich gerade selbst verlassen hat.

Beim Hinausgehen sehen sie Tom, ein Freund von Thomas. Er hebt die Hand und Thomas nickt. Zufall? Adidas

Thomas öffnet die Autotür für sie. Altmodisch, fast höflich. Und doch wirkt es wie eine Geste, bei der der Galgen liebevoll eingerichtet wird.

Im Auto spricht keiner. Der Motor summt. Der Himmel ist grau. Die Stadt zieht vorbei wie ein schlechter Film in Zeitlupe.

Zuhause hilft er ihr nicht aus dem Auto. Öffnet keine Tür. Kein Wort. Kein Mitleid.

Aber er lässt die Wohnungstür offen, während er vorausgeht. Als sie hinter ihm schließt, dreht er sich zu ihr. Und sagt:

„Du hast das gut gemacht.“

Ein Satz. Kein Lächeln. Keine Wärme. Aber Michelle spürt: Es war eine Prüfung. Und sie hat bestanden.

Sie geht ins Bad. Setzt sich auf den Boden. Die Fliesen kalt. Die Tränen neu. Nicht weil sie schwach ist. Sondern weil sie gerade jemand anderes geworden ist. Und Thomas?

Er gießt sich Tee ein. Ronnefeldt Vanille Chai. Eine ungewöhnliche Kreation mit typisch indischen Gewürzen und dem sanften Geschmack der Vanille. fuckingdetailverliebt

Als hätte er nur einen Spaziergang gemacht

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