Eveline

Als Lehrer hat mal auch mal eine freie Stunde zwischen zwei Unterrichtseinheiten. Und nicht immer hat Benno Oberländer Lust und die Muße, Klassenarbeiten zu korrigieren, sondern nutzt die Zeit für Besorgungen oder einfach einen Spaziergang. Und bei diesem einen Mal trifft er Eveline an, die offenbar ebenfalls eine Freistunde hat, in einer Ecke des Schulgeländes sitzend, mit völlig verheultem Gesicht. Der Grund ist bereits Schulgespräch: Der von ihr angehimmelte Florian hat eine neue Bettgefährtin – die wiederum nicht Eveline ist.

Er reicht ihr wortlos ein Taschentuch, worauf sie mit Mühe ein „Danke“ äußert, weil sie am liebsten wieder losheulen würde. Er setzt sich mit etwas Abstand neben sie. Sie soll sich nicht beengt fühlen. Und er sagt nichts weiter, bietet ihr nicht an, mit ihm zu reden, denn das würde sie sowieso ablehnen.

„Können Sie mich bitte einfach in den Arm nehmen?“, fragt sie ihn auf einmal. Er gibt zu bedenken, dass er Lehrer und sie Schülerin sei. Mit ihrem messerscharfen Verstand legt sie ihm dar, dass auch sie selbst volljährig ist und ihn ohnehin nicht im Unterricht hat, er mit ihren Schulnoten also nichts zu tun hat. Aber halt eine Fürsorgepflicht. Als Antwort rückt er an ihre Seite und legt einen Arm um sie. Hier in der Ecke sind sie vom Schulgebäude ohnehin nicht zu sehen. Eveline schmiegt sich an ihn – und dann bricht es aus ihr heraus. Weinend öffnet sie ihr Herz, versucht in Worte zu fassen, wie unglaublich enttäuschend sie Florians Verhalten findet. Eine ganze Packung Papiertaschentücher wird für den Tränenschwall benötigt, und trotzdem hat sein Hemd größere Feuchtigkeitsflecken durch Tränenflüssigkeit.

Er sagt dazu nichts, reicht nur Taschentücher an, hält sie fest in seinem Arm, genießt ihre Körperwärme, ihren Geruch. Als sie sich einigermaßen beruhigt hat, fragt sie mehr sich als ihn, was sie nun tun solle. Als Antwort greift er an ihr Handgelenk, nimmt ein schwarzes Bändchen zwischen Daumen und Zeigefinger und guckt ihr tief in die Augen. Darin liest er erst Erstaunen, Zweifel, Unsicherheit – und dann Verstehen, gefolgt von einem bestätigenden Kopfnicken. Eveline versteht, dass er bereit ist, sie als gleichwertige Partnerin im Bett zu akzeptieren, als vollwertige Frau wahrzunehmen, ihr zumindest für einige Stunden das zu geben, was sie sich sehnlichst von Florian erhofft. Und Eveline ist bereit und willens, sich ihm, dem erfahrenen, gut zehn Jahre älteren attraktiven Mann hinzugeben.

Benno Oberländer hat Menschenkenntnis. Und so lädt er Eveline für den Freitagnachmittag in sein Zuhause ein. Denn eine wie Eveline kann er in seine eigenen vier Wände lassen.

Eveline kommt am Freitag pünktlich mit dem Fahrrad an. Da er in einem Mehrfamilienhaus lebt, fällt es nicht weiter auf.

Bei der Begrüßung umarmen sie sich, küssen sich gegenseitig auf die Wange, grinsen in gemeinsamer gespannter Erwartung. Sie gehen erst mal in das Wohnzimmer, genießen Kaffee und Kekse, die er vorbereitet hat, unterhalten sich. Eveline hat sich herausgeputzt. Weiße Bluse, die einen weißen BH durchschimmern lässt, beigefarbener knielanger Rock, der ihre nackten schlanken Beine gut zur Geltung bringt, Söckchen; die Schuhe hat sie im Flur abgestreift.

Als sie sich gestärkt haben, setzen sie sich nebeneinander aufs Sofa, schauen sich tief in die Augen, um sich zu vergewissern, dass sie das Verabredete jetzt auch durchziehen wollen, umarmen sich und fangen an, sich zu küssen.