Die besetzten Häuser in der Bahnhofstraße

Karl legt beschützend seinen Arm um die zitternde Sabine. Mit der anderen Hand schiebt er sein Rennrad. Zum Glück ist es nicht weit weg, und Sabine ist noch viel zu aufgeregt und zu dankbar für die unerwartete Hilfsbereitschaft, als dass sie begreift, wo sie sich befindet.

Es ist die Straße gleich hinter dem Bahnhof, die dort stehenden Wohnhäuser hätten bereits seit einigen Jahren abgerissen werden sollen. Studenten und Punks haben sie damals besetzt, die Polizei hatte mehrfach geräumt, aber die Häuser waren immer wieder neu besetzt worden. Die neue Bürgermeisterin hat als erste Amtshandlung verfügt, die momentane Situation zu dulden, um den sozialen Frieden in der Stadt zu fördern. Mit dem Erfolg, dass sich die Straße hinter dem Bahnhof komplett besiedelt hat, auch die schon halb verfallenen Häusern dienen nun jungen Freaks, aber auch Pennern, illegalen Einwanderern und Nutten, die sonst auf der Straße arbeiten würden, als Dach über dem Kopf.

Karl wohnt in einer WG in der Nummer 36, einem großen alten Wohnhaus mit Hinterhof. Er ist mit drei Freunden und zwei Freundinnen dort eingezogen -- Miete zahlt er keine, den Strom haben sie abgezapft, und das Wasser wird ihnen aus hygienischen Gründen kostenlos von der Stadt zur Verfügung gestellt. Er wohnt gern dort, und wenn sich in den letzten Monaten ein paar zwielichtige Gestalten die verfallenen Wohnungen aus dem Hinterhaus genommen haben, ist ihm das eigentlich egal. Die Bewohner der Wohnungen des Vorderhauses, Studenten, Punks und Aussteiger, haben mit denen im Hinterhaus wenig zu tun, eigentlich sieht man diese Leute nie. Er hat ein paar Schwarze dort gesehen und mal eine osteuropäische Sprache gehört, russisch oder albanisch oder so. Ein, zwei Mal ein paar Frauen, die abgerissen aussahen, aber trotzdem irgendwie geil. Manchmal hört er von dort Schreie, fast könnte man meinen, dass jemand dort gefoltert wird, aber er ist sicher, da wird einfach nur gefickt.

Denn das passiert natürlich auch im Vorderhaus, und auch in seiner WG. Die Bewohner von Nr. 36 sind alle eher... free & easy. Sex spielt eine große Rolle im Leben des Hauses, das ist das, was er am Geilsten findet an seiner Wohnung. In der WG fickt eigentlich immer irgendwer mit irgendwem, dass das alle mitbekommen, lässt sich nicht vermeiden, denn die Türen waren so morsch, dass sie sie wegschmeißen mussten, und für neue ist kein Geld da. Aber mit einem freien Geist ist das alles kein Problem...

Er schultert das Fahrrad und sagt zu Sabine: "Komm erstmal rauf in unsere Wohnung. Du kannst duschen und dich ein wenig ausruhen, und dann siehst du weiter." Er geht die Treppen zum dritten Stock voraus, er weiß, dass sie ihm folgen wird. Und richtig, kurz darauf hört er das Klackern ihrer Absätze und muss ein Grinsen unterdrücken. Wie wohl Wolfgang und Heiner auf seinen Fang reagieren werden? Und Francesca, die eh mehr auf Frauen als auf Männer steht? Und seine Freundin Alina, was wird die wohl sagen? Naja, viel zu sagen hat Alina eh nicht, Karl hat schopn immer gemacht, was er will. Wenn sie bei ihm sein will - okay, dann muss sie damit leben, dass er wen auch immer wann auch immer fickt, wenn er gerade darauf Lust hat. Alina hat inzwischen die Lektion gelernt, Karl weiß, dass sie inzwischen auch von Heiner gefickt worden ist. Karl findet das gut, das macht alels unproblematisch.

Oben angekommen, drückt er die Klinke auf. Abgeschlossen wird auf der ganzen Straße nicht, es gibt einen gewissen Ehrenkodex unter den Bewohnern. Und die offenen Haustüren erleichtern spontane Besuche des nachts und des tags ungemein.

In der Küche sitzt Francesca im Bademantel, dessen Gürtel sie verloren hat und der deshalb vorn aufklafft.

"Hi", sagt sie, als Karl und Sabine herein kommen, "wer bist du denn?"