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Chapter 2 by Meister U Meister U

What's next?

Der Anruf

Das Summen der Stille wurde jäh zerschnitten vom schrillen Klingeln des Festnetztelefons auf meinem Schreibtisch. Ich zuckte zusammen. Wer ruft hier noch an? Terminvereinbarungen laufen über die Online-Buchung, Rechnungen per Mail. Der Apparat wirkte wie ein Fossil aus einer anderen Zeit, verstaubt und deplatziert. **** griff ich zum Hörer.

"Praxis Emilia Weber, guten Tag?"

"Guten Tag, Frau Weber. Hier spricht Sabine Meinhardt vom Fachdienst VII – Ressort für Individuelle Lebenswegsteuerung und Sozialraumorientierung der Stadtverwaltung." Die Stimme am anderen Ende war präzise, fast schneidend, und trug den unverkennbaren Stempel der Behörde: effizient, distanziert, leicht genervt. "Wir wundern uns, dass Ihre Bewerbung auf die ausgeschriebene Stelle mit der Kennziffer FDVII-23-451a-SB noch nicht bei uns eingegangen ist. Die Frist läuft Ende der Woche aus."

Ich starrte auf die leere Wand vor mir. Bewerbung? Kennziffer? Fachdienst VII? Es klang wie ein Code aus einem schlechten Spionageroman. "Ähm... Entschuldigung? Frau Meinhardt? Ich... ich glaube, da liegt ein Missverständnis vor. Ich habe mich auf keine Stelle beworben. Ich bin selbstständige Sexualtherapeutin."

Ein kurzes, ungeduldiges Geräusch, das sich wie ein gespieltes Seufzen anhörte. "Das ist uns bekannt, Frau Weber. Ihre Qualifikationen sind aus den öffentlichen Registern einsehbar. Der Fachdienst VII sucht explizit nach hochqualifizierten Persönlichkeiten mit Ihrem Profil: Masterabschluss in Psychologie, nachgewiesene Expertise im Umgang mit komplexen zwischenmenschlichen Dynamiken, hohe Resilienz, ausgeprägte kommunikative Fähigkeiten. Die Stellenausschreibung wurde Ihnen per Post und per E-Mail zugeleitet. Sie ist auch auf unserem Karriereportal veröffentlicht."

Post? E-Mail? Mein Briefkasten war ein schwarzes Loch für Rechnungen und Werbung, mein Postfach digital meist mit Newsletter-Müll verstopft. "Ich... ich habe nichts erhalten. Und ich bin wirklich nicht auf Jobsuche." Ein Teil von mir wollte einfach auflegen. Das war absurd.

"Dann liegt hier offenbar eine technische Panne vor, die wir intern prüfen werden", sagte Frau Meinhardt, ihre Stimme ließ keinen Zweifel daran, dass sie für diese Panne nicht verantwortlich war. "Da wir Sie jedoch erreicht haben und die Frist drängt, empfehle ich Ihnen dringend, die Ausschreibung einzusehen. Die Stelle ist hochdotiert, A 13 Landesbesoldung, mit allen beamtenrechtlichen Vergünstigungen. Die Aufgaben sind herausfordernd, aber gesellschaftlich höchst relevant. Es wäre bedauerlich, wenn Sie sich aufgrund eines Übermittlungsfehlers nicht bewerben würden. Die Kennziffer ist FDVII-23-451a-SB. Sie finden alles online."

Ein kurzes Klicken. Sie war weg, ohne Abschied. Ich hielt den surrenden Hörer in der Hand, fühlte mich, als hätte mich ein Wirbelwind erfasst und wieder fallen lassen. Fachdienst VII. Individuelle Lebenswegsteuerung. Was zum Teufel? Eine Mischung aus Irritation und makaberer Neugier trieb mich an den Computer. Ich googelte die kryptische Kennziffer.

Und dann starrte ich auf den Bildschirm. Die Ausschreibung war real. Und sie war... monumental. Ein Wust aus Juristendeutsch, Verwaltungskauderwelsch und pseudo-wissenschaftlichem Jargon, der einen ganzen Wald an Papier hätte fressen können. "Beamtin/Beamter (m/w/d) des höheren Dienstes... für die Wahrnehmung von Aufgaben der gesetzlich legitimierten, kontinuierlichen Betreuung und Alltagsstrukturierung..."

Ich scrollte weiter. Meine Augen blieben an den Aufgabenschwerpunkten hängen:

Entwicklung, Implementierung und fortlaufende Adaption eines strukturierten Tages- und Wochenplans...

Enge, lösungsorientierte Begleitung und fachlich fundierte Anleitung bei der Bewältigung lebenspraktischer Anforderungen... insbesondere Zeitmanagement... Ressourcenorientierte Freizeitgestaltung... Strukturierte Erledigung administrativer Verpflichtungen...

Herstellung und Aufrechterhaltung eines tragfähigen Betreuungskontaktes... professionelle Moderation von Interaktionen...

Es klang, als solle man einem Erwachsenen beibringen, wie man lebt. Einem sehr kaputten Erwachsenen. Die Anforderungen lasen sich wie eine Karikatur meiner eigenen Defizite: "Exzellente kommunikative und diplomatische Fähigkeiten... Hohe Belastbarkeit, psychische Stabilität und ausgeprägte Frustrationstoleranz... Organisationstalent ersten Ranges... Unerschütterliche Geduld, Empathie bei gleichzeitiger konsequenter Zielorientierung... Bereitschaft zu außergewöhnlicher Flexibilität hinsichtlich Arbeitszeiten..."

Ein hysterisches Lachen stieg in mir hoch und blieb mir im Hals stecken. Psychische Stabilität? Mein inneres Chaos hätte diese Stelle schon in der Probezeit gefressen. Unerschütterliche Geduld? Ich konnte kaum noch die Sitzungen mit Sarah und Markus ertragen. Empathie? Die war mir wie Sand durch die Finger geronnen, ersetzt durch ein stumpfes, professionelles Abarbeiten. Und mein eigenes Zeitmanagement? Meine Freizeitgestaltung? Ein einziges Trauerspiel aus Arbeit, einsamen Abenden und schlechtem Wein.

Doch dann mein Blick auf das Gehalt: A 13. Das war... sehr viel mehr, als ich je in meiner Praxis verdient hatte, trotz der hohen Stundensätze. Sicherheit. Pension. Keine nervösen Blicke mehr aufs Konto, wenn mal wieder ein paar Klienten abgesprungen waren. Keine ständige Akquise. Kein Anhören von Ehe-Dramen, die mich an meine eigenen gescheiterten Versuche erinnerten.

Plötzlich war es nicht mehr nur absurd. Es war verlockend. Verlockend und zutiefst ironisch. Da bot mir das Schicksal – oder eine überforderte Stadtverwaltung – einen Job an, bei dem ich genau das tun sollte, was ich selbst so dringend bräuchte: Jemandem Struktur geben. Jemandem helfen, seinen Alltag zu meistern. Jemanden daran hindern, im eigenen Elend zu versinken. Während ich selbst in meinem perfekt designten, sterilen Praxis-Gefängnis saß und langsam verdorrte.

Ich druckte die Ausschreibung aus. Das Papier fühlte sich fremd und schwer an. "Fachdienst VII - Ressort für Individuelle Lebenswegsteuerung und Sozialraumorientierung". Der Name klang nach einem Ort, an den man Menschen schickte, die aus der Bahn geworfen waren. Vielleicht war ich das ja auch. Vielleicht war ich die Person, die dringend jemanden brauchte, der ihr einen strukturierten Tagesplan erstellte und sie zu "ressourcenorientierter Freizeitgestaltung" anhielt. Stattdessen sollte ich diese Person sein?

Ein wilder, verzweifelter Gedanke schoss mir durch den Kopf. Warum nicht? Was hatte ich zu verlieren? Meine Praxis, die mich auffraß? Meine Expertise, die sich wie ein schlechter Witz anfühlte? Die Hoffnung, dass irgendwann wieder "richtig guter Sex" oder überhaupt eine funktionierende Beziehung in mein Leben treten würde?

Ich griff nach meinem Lebenslauf, der irgendwo in einer digitalen Schublade schlummerte. Ein neuer Lebenslauf. Keine "Sexualtherapeutin". Sondern... was? "Beamtin zur Lebenswegsteuerung"? Es klang wie eine Kapitulation. Oder vielleicht wie eine radikale Flucht. Vor mir selbst. Vor dem, was mein Leben geworden war.

Meine Finger flogen über die Tastatur. *"Sehr geehrte Damen und Herren, hiermit bewerbe ich mich... Kennziffer FDVII-23-451a-SB..."* Ich schrieb, fast wie im Rausch, getrieben von einer Mischung aus Trotz, Verzweiflung und einer perversen Faszination für die Absurdität des Ganzen. Was würde passieren? Würden sie mich tatsächlich einladen? Zu einem Assessment-Center für gescheiterte Lebenskünstler?

Ich klickte auf "Senden". Die Bewerbung war weg. In den digitalen Schlund des Fachdienstes VII. Ich lehnte mich zurück. Die Stille der Praxis war plötzlich anders. Nicht mehr leer, sondern geladen mit der grotesken Möglichkeit, dass mein Leben eine völlig absurde Wendung nehmen könnte. Ein Funken... nicht von Hoffnung. Aber von etwas. Von Veränderung. Selbst wenn es in die völlig falsche Richtung ging.

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