Die Hochzeitfeier

Es dauerte über ein halbes Jahr, bis ich meine Exfrau Julia schließlich wiedersah. Nach einem sehr harmonischen Zusammenleben hatten Ramona und ich uns entschlossen bald zu heiraten. Zu der geplanten Hochzeitsfeier hatten wir nach einer kurzen Diskussion auch Julia und sogar ihre Eltern eingeladen. Doch ihre Eltern waren wohl nach wie vor der Überzeugung gewesen, dass ich als ein rechtmäßig verurteilter Drogenhändler nach ihrer ersten nun auch ihre zweite Tochter missbrauchen würde und hatten dementsprechend schroff abgesagt. Ramona, die bereits vorher mit einer solchen harschen Reaktion ihrer Eltern gerechnet hatte, kümmerte sich einfach nicht weiter darum. Von Julia hingegen erhielten wir zunächst überhaupt keine Antwort.

Während der Hochzeitsfeier sah ich Julia dann jedoch plötzlich ganz einsam und alleine in der hintersten Ecke des großen Festsaales stehen. Kurzerhand nahm ich Ramona in ihrem weißen Brautkleid an der Hand und führte sie zu ihrer vollkommen überraschten Schwester. „Ich wollte euch beide nur noch einmal sehen“, stammelte Julia offenbar verlegen, dass wir sie in ihrer Ecke bemerkt hatten, und reichte erst ihrer Schwester Ramona und dann mir sehr förmlich die Hand. Ramona hingegen umarmte Julia vor Freude über ihr Erscheinen überglücklich. Man sah Julia an, dass sie auf so einen herzlichen Empfang nicht vorbereitet gewesen war. Ihr schossen bei dieser Begrüßung sogar die Tränen in die Augen.

Ich hielt mich zunächst zurück und sah mir meine Exfrau genauer an. Sie trug ein schwarzes Kleid, das ich ihr früher einmal gekauft hatte, dazu schwarze Strümpfe und hochhackige Schuhe. Ihre langen Haare wirkten matt, ihre Augen hatten ihren früheren Glanz verloren, und sie machte trotz ihrer vordergründigen Schönheit einen sehr gestressten Eindruck auf mich. Wir nahmen Julia mit zu unserem Tisch und sorgten dafür, dass sie auch noch von unserem Hochzeitsessen serviert bekam, während wir uns unterhielten. Dabei vermied Julia es sehr sorgsam, über ihre Beziehung mit Achim zu sprechen. Später tanzten Julia und ich miteinander. Als Julia sich eng an mich schmiegte, fühlte ich mich unwillkürlich wieder an die Zeit erinnert, in der wir beide noch miteinander verheiratet gewesen waren.

Ich atmete den Duft ihres mir bestens bekannten, blumigen Parfüms ein und seufzte schwer dabei. Das letzte was ich danach von Julia noch sah, war wie sie rasch mitten durch die ausgelassen feiernde Menschenmenge hindurch und aus dem Festsaal davonrannte. „Was hast du denn zu Julia gesagt, dass sie so plötzlich davongelaufen ist?“ fragte mich Ramona ganz erstaunt. „Ich habe überhaupt nichts zu ihr gesagt“, versicherte ich ihr ebenso verwirrt. „Ich denke, wir müssen Julia einfach Zeit geben“, sagte Ramona ein wenig bedrückt, bevor wir uns wieder unseren anderen Hochzeitsgästen zuwandten. Wir wussten zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass wieder fast ein ganzes Jahr vergehen würde, ehe Ramona Julia das nächste Mal wiedersehen würde …