Takt 42

Die zweite Probe verlief problemloser als die erste, aber Johann hatte immer noch das Gefühl, dass das Orchester ihm auf den Zahn fühlte und testete, wie weit er sich verbiegen und wo er standhaft bleiben würde. Das war für ihn schon in Ordnung so. Jede neue Gruppe durchlief diese Phase. Der Trick bestand darin, gerade so viel Druck auszuüben, dass man sich Respekt verschaffte, ohne den anderen zu entmutigen.

Izzy Laurent schien jedoch entschlossen, seine Geduld auf ihre eigene ganz spezielle Weise auf die Probe zu stellen. Es waren Kleinigkeiten, jede von ihnen lässlich. Aber in der Summe dürften sie einer professionellen Musikerin nicht passieren.

Nach der Hälfte der Übungsstunde stoppte er abrupt. „Englischhorn, versuchen wir den Einsatz noch einmal.“

Von ihrem Platz aus seufzte Izzy übertrieben. “Wirklich? Sind Sie sicher, dass Sie mich nicht lieber allein spielen hören wollen? Vielleicht ein Privatlektion in Ihrem Büro?“

Einige im Orchester kicherten, aber Johann ließ sich nicht auf eine Auseinandersetzung ein. Er bedeutete ihr lediglich, fortzufahren. „Tun Sie mir den Gefallen.“

Sie hob das Instrument an ihre Lippen und spielte die Passage erneut – klangvoll, samtig, mühelos. Zu mühelos. Es war technisch perfekt, aber es fehlte etwas.

Johann legte den Kopf schief. „Das war ... schön.“

Izzy senkte ihr Englischhorn. “Schön? Das ist die Art von Kompliment, die man einem Amateur macht, der sich bei einem Konzert nicht völlig blamiert.“

Er lächelte leicht. „Es war gut. Aber es hat nichts zum Ausdruck gebracht.“

Sie hob eine Augenbraue. "Oh? Und was genau sollte es zum Ausdruck bringen?“

Er lehnte sich auf das Podium, seine Stimme leiser, aber nicht weniger entschieden. “Dieser Teil – kurz bevor die Streicher einsetzen – sollte so sein, als würde jemand die Hand ausstrecken. Sehnsüchtig, aber zögerlich. Es geht nicht nur um Noten, es geht um Verzagen und Verlangen, alles in einem.“

Izzy blinzelte. Für den Bruchteil einer Sekunde veränderte sich etwas in ihrem Blick. Dann grinste sie ironisch. „Verzagen und Verlangen. Was für einen poetischen Dirigenten wir doch haben.“

Johann zuckte unbeeindruckt mit den Schultern. "Spielen Sie es so, als würden Sie mir glauben."

Sie musterte ihn einen Augenblick länger als nötig und hob dann ihr Instrument wieder an. Diesmal waren ihre Noten anders. Dieselbe Melodie, aber jetzt lag ein Hauch von Verletzlichkeit darin, ein Sog, der gerade lange genug anhielt, um beim Zuhörer den Wunsch nach mehr zu wecken.

Johann ließ die letzte Note in der Luft hängen, bevor er nickte. „Besser.“

Izzy senkte ihr Instrument und lächelte – nicht ihr übliches neckisches Grinsen, sondern etwas Dezenteres. “Du wolltest mich nur noch einmal allein spielen hören, oder?“

Johann lachte leise und schüttelte den Kopf, während er seinen Taktstock hob. „Zurück zu Takt 42, alle zusammen.“

Als die Musik wieder einsetzte, warf Izzy ihm noch einen Blick zu, ihr Gesichtsausdruck war nicht zu deuten. Johann schaute sie an, aber noch mehr er konnte es spüren – den unausgesprochenen Rhythmus zwischen ihnen, etwas, das nichts mit den Notenblättern vor ihnen zu tun hatte.

Und dann schlug sie die Beine übereinander. Das Rechte über das Linke. So verharrte sie kurz, um es danach in einer bedächtig langsamen, bewusst provokanten Bewegung wieder anzuheben und zur Seite zu drehen. Dabei rutschte ihr Rock zeitweilig nach oben. Johann konnte nicht anders, als hinzusehen. Der Blick war flüchtig gewesen und in einer anderen Situation oder bei einer anderen Person hätte Johann angenommen, dass er sich geirrt hatte. Aber in diesem Moment war er sicher, dass sie unter dem Rock nichts anhatte und ihm absichtlich alles gezeigt hatte.