Anja

In dem Moment, als Martin ihr den flüchtigen Kuss auf die Wange gab, wusste auch Anja, dass ihr Mann Bescheid wusste. Es war nicht die sonst übliche stürmische Begrüßung mit Zungenkuss und allem Drum und Dran, es war Martins zurückhaltendes, beinahe distanziertes Verhalten, das sie erschrecken ließ. Niemand sonst schien es jedoch bemerkt zu haben, so dass Anja sich weiter tapfer bemühte, mit dem erschienenen Empfangskomitee zu lachen und zu scherzen und für die Kamera zu lächeln. Mit Martin würde sie später schon irgendwie klarkommen, denn schließlich liebte er sie genauso sehr wie sie ihn liebte. Sie war sich sicher, dass Martin ihr am Ende, wenn sie ihm alles erklären würde, ihren Fehltritt verzeihen würde.

Am Abend, als auch der letzte Besuch endlich gegangen war, ging Martin mit Laura in ihr Zimmer, um ihr vor dem Schlafengehen noch eine Geschichte vorzulesen. „Was ist denn bloß mit Martin los?" fragte ihre jüngere Schwester Lisa, die als einzige noch geblieben war, verwundert. „Ich weiß nicht, was du meinst", entgegnete Anja steif. „Er war heute den ganzen Tag so still, als ob er sich nicht richtig freuen würde, dass du wieder da bist", wunderte sich Lisa. „Das bildest du dir nur ein", antwortete Anja und drehte sich rasch zur Seite, so dass ihre Schwester die Tränen in ihren Augen nicht sehen konnte. In der Ferne hatte sie sich vorgestellt, dass sie alles wieder gutmachen würde, aber wieder zuhause drohte sie ihr schlechtes Gewissen zu überwältigen ...